Die Force de frappe – Frankreichs Atomwaffen
Die Force de frappe – Frankreichs Atomstreitmacht
Wenn von „Atommächten“ die Rede ist, steigt den meisten wohl zunächst das Bild von den beiden Supermächten USA und Russland vor das geistige Auge. Beide Staaten sollen über jeweils 1.500 bis 2.000 Nuklearsprengköpfe verfügen.
Oft wird vergessen, dass der Klub der über atomare Waffensysteme verfügenden Staaten mehr als nur diese zwei Mitglieder hat. Genau ist allerdings nicht bekannt, wer tatsächlich offiziell oder im Geheimen über atomare Massenvernichtungswaffen verfügt. Es werden zum Beispiel oft Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea als faktische Atommächte genannt. Aber auch Saudi-Arabien oder Iran werden zumindest als mögliche Kernwaffen-Staaten gehandelt.
Der offizielle Atommächte-Kreis umfasst fünf Länder. Das sind neben den Atom-Riesen USA und Russland auch Großbritannien, die Volksrepublik China und Frankreich. Mit jeweils schätzungsweise weniger als 300 Sprengköpfen haben diese drei Länder zwar vergleichsweise bescheidene Nuklear-Arsenale. Bedrohlich genug sind sie dennoch.
Force de frappe – Weichensteller Charles de Gaulle
Die Geschichte der von Zivilisten allgemein mit ihrer ursprünglichen Bezeichnung „Force de frappe“ (“Schlagkraft“) benannten Nuklearstreitmacht Frankreichs steht unter anderem für das selbstbewusste Bemühen der französischen Staatsführung, im militärischen Bereich an Großmacht-Traditionen anzuknüpfen.
Auf Augenhöhe mit den beiden Supermächten UdSSR und USA tatsächlich oder doch zumindest formal zu stehen, war für viele französische Politiker der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine ihrer Grundsätze politischen Handelns. Insbesondere Charles de Gaulle, letzter Ministerpräsident der IV. Republik (1958) und erster Präsident der V. Republik (1959 bis 1969), legte großen Wert auf die für ihn Unabhängigkeit und Größe symbolisierende atomare Bewaffnung seines Landes.
Bereits vor 1939 sind französische Wissenschaftler intensiv auf dem Gebiet der Nuklearforschung aktiv gewesen. An diese durch den Zweiten Weltkrieg weitgehend unterbrochenen Forschungen knüpfte General Charles de Gaulle unmittelbar nach Kriegsende an. Er hatte sich stets deutlich für den Aufbau einer französischen Atomstreitmacht ausgesprochen. Im Oktober 1945 ordnete er als Präsident der Provisorischen Regierung (1944 – 1946) die Gründung der Atombehörde Commissariat à l'énergie atomique (CEA) an. In den Folgejahren stand zwar vor allem die zivile Nutzung der Atomkraft im Vordergrund, doch blieb der Aspekt militärischer Nutzung von spaltbarem Material unvergessen, zumal mit der Entdeckung von Uran-Vorkommen im Massif central genügend radioaktives Basismaterial zur Verfügung stand.
Von der Kolonialmacht zur Atommacht
Mit der für Frankreichs Kolonialherrschaft endgültig einen Wendepunkt bedeutenden Niederlage französischer Truppen in der Schlacht von Dien Bien Phu 1954 in Indochina bekam die Idee von einer eigenen Atomstreitmacht unter der Trikolore Aufwind. Um verlorenes Prestige zurückzugewinnen, ordnete Ministerpräsident Pierre Mendès France Weihnachten 1954 ein Programm zur Entwicklung von Atombomben an.
Ein nächster Anstoß in Richtung Atomwaffen-Alleingang war die Empörung vieler der in ihrer nationalen Ehre verletzten Franzosen während der Suezkrise 1956. Der anglo-französisch-israelische, gegen Ägyptens Präsident Nasser gerichtete Coup, im Handstreich die Suezkanalzone unter Kontrolle zu bringen, war kläglich am ausnahmsweise gemeinsamen „Njet-No!“ der beiden Supermächte gescheitert. Beleidigt ging die französische Regierung auf Distanz der von den USA dominierten NATO und forcierte den Aufbau seiner Force de frappe.
Atom-Präsident Charles de Gaulle
Noch als Ministerpräsident befahl der ab Januar 1959 als Präsident an der Spitze Frankreichs stehende Charles de Gaulle Mitte 1958 die Vorbereitung von Atomwaffen-Tests. Am 13. Februar 1960 verlor Frankreich dann endgültig seine atomare Unschuld. Mitten im Algerien-Krieg detonierte in der algerischen Sahara-Oase Reggane der erste französische Atomsprengkopf. Bis 1967 nutzte das französische Militär Reggane und andere Startplätze in Algerien für Atomtests. In den Friedensverträgen, die das 1962 unabhängig gewordene Algerien mit dem ehemaligen Mutterland abgeschlossen hatte, war eine solche Nutzung festgeschrieben worden.
Ab 1967 verlegte Frankreich seine Tests in den Südpazifik. Jetzt wurden keine Afrikaner, sondern die Bewohner des Mururoa-Atolls Opfer von radioaktivem Fallout.
Nukleare Abschreckung auf Französisch
De Gaulle strebte den Aufbau einer Atommacht an, die in ihrer Größe durchaus nicht der der Supermächte entsprechen sollte. Ein solcher Aufbau wäre für Frankreich auch finanziell nicht möglich gewesen.
Vielmehr vertrat de Gaulle die Doktrin der „dissuasion du faible au fort“ („Abschreckung von schwach nach stark“). Die französische Atommacht sollte so stark sein, dass sie, so de Gaulle, in der Lage sein würde, „80 Millionen Russen zu töten.“ Das würde nach de Gaulle ausreichen, um die UdSSR davon abzuhalten, Frankreich atomar anzugreifen.
Militärische Organisation
Parallel zu den Atomwaffentests wurden Verbände mit Atomwaffen aufgestellt. Dabei sollten Teile der drei Teilstreitkräfte Luftwaffe, Marine und Heer mit atomaren Waffen ausgerüstet werden. Die 1961 von „Force de frappe“ in „Force de dissuasion nucléaire“ („nukleare Abschreckungstreitmacht“) umbenannte Nuklearstreitmacht war und ist also keine eigene Teilstreitmacht. Allerdings wurden Sonderkommandostrukturen und ein koordinierender Stab („Centre opérationnel des forces nucléaires“) eingerichtet. Allein der Präsident der Republik konnte und kann den Befehl zum Atomwaffen-Einsatz geben. Gegebenenfalls von einem Bunker (“Poste de commandement Jupiter“) unter dem Élysée-Palast aus.
Die ersten, 1964 einsatzbereiten Luftwaffen-Verbände waren mit dem Flugzeugtyp Mirage IV (später Mirage 2000N, seit 2018 Rafale F3) ausgerüstete Atombomber-Staffeln, die „Forces aériennes stratégiques“ (FAS).
Ab 1971 wurden die für den Mittelstreckenbereich bis 1.500 km einsetzbaren Flugzeuge durch Atom-U-Boote ergänzt. Das erste einer als „Force océanique stratégique“ (FOST) aufgestellten U-Flottille war die mit 16 Langstrecken-Raketen (Reichweite: 3.200 km) bewaffnete LE REDOUTABLE. Die zwischen 1971 bis 1985 in Dienst gestellten, insgesamt sechs Boote der REDOUTABLE-Klasse sind inzwischen durch die vier U-Boote der TRIOMPHANT-Klasse abgelöst worden. Diese in Brest stationierten U-Boote sind je 138 m lang und haben jeweils 16 Atomraketen von Typ M 51 (Reichweite 6.000 km) an Bord.
Ebenfalls zur Marine gehören mit Atomwaffen ausrüstbare Träger-Flugzeuge der Force Aéronavale Nucléaire (FANu). Aktuell sind für diese Aufgabe auf dem Flugzeugträger CHARLES DE GAULLE stationierte Maschinen vom Typ Rafale MF3 vorgesehen. Von 1971 bis 1999 verfügte auch das Heer über Atom-Raketen. Zum Teil waren diese Mittelstreckenraketen in festen unterirdischen Stellungen, zum Beispiel auf dem Plateau d'Albion, stationiert, zum Teil waren sie mithilfe von Selbstfahrlafetten mobil einsetzbar.
Über wie viele Sprengköpfe die Force de dissuasion nucléaire aktuell verfügt, ist nicht genau bekannt. Experten vermuten aber, dass eine Zahl von knapp 300 realistisch sei.
Teures Spezialmilitär, Option europäische Atommacht
Die französische Regierung hat angekündigt, dass sie für den Zeitraum 2019 bis 2023 mit Unterhalts- und Modernisierungskosten für die Force de dissuasion nucléaire in Höhe von 25 Milliarden Euro rechnet. Die Nuklearstreitmacht kostet eben. Nicht nur in Hinblick auf eventuelle Möglichkeiten der Beteiligung von europäischen Partnern an diesen Kosten wird von französischer Seite regelmäßig betont, dass die Force de frappe als Kern einer anzustrebenden europäischen Atommacht anzusehen sei. Eine Atommacht, die EU-Europa militärisch unabhängiger von den USA machen könnte.
Diese Ansicht wird auch von vielen Frankreich-Nachbarn geteilt. So kommt immer wieder der Vorschlag auf den Tisch, sich gegen französische Sicherheitsgarantien im Rahmen der EU an den Kosten für einen die Anrainer abdeckenden atomaren Sicherheitsschirm zu beteiligen.
Die im Januar 2019 von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron in Aachen unterzeichnete, unter anderem verteidigungspolitische Zusammenarbeit betonende Erneuerung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags könnte möglicherweise dieses Nuklear-Thema neu beleben.